Warum Scheitern wichtig ist | DerStandard
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der Fehler oder Misserfolge nicht erwünscht sind und zweite Plätze nichts zählen. Das sollten wir ändern
Gesamtweltcup, Riesentorlauf, Slalom: In der Skisaison 2017/2018 war Henrik Kristoffersen der ewige Zweite. Nach Marcel Hirscher. Auch in dieser Skisaison ein ähnliches Bild: Der Österreicher gewinnt, der Norweger liegt meist hinter ihm. Wird es mit der Zeit leichter, sich damit abzufinden? „Nein, es wird nicht leichter, der Zweite zu sein. Du solltest nicht lachen und klatschen, wenn dich jemand besiegt und du nicht die Leistung zeigst“, sagte Kristoffersen kürzlich in einem Interview.
In einer Leistungsgesellschaft werden Menschen an ihren Erfolgen gemessen. Was wirklich zählt, ist der Sieg. Für einen Profisportler ist jeder zweite Platz eine Niederlage. „Damit wir an Niederlagen wachsen können, müssen wir richtig mit ihnen umgehen. Wir brauchen ein neues Bewusstsein für unsere Schwächen“, sagt die Psychiaterin Déirdre Mahkorn, Oberärztin an der Bonner Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
Das fällt bestimmten Berufsgruppen besonders schwer. Etwa Pianisten, Bassisten, Saxofonisten. Mahkorns Patienten sind Berufsmusiker, die ihre Angst überwinden sollen, Fehler zu machen. Die Abteilung, die sie speziell für dieses Klientel gegründet hat, nennt sie „Lampenfieberstation“. Die Panik vor dem Scheitern ist so groß, dass die Fehler, die noch gar nicht passiert sind, bereits erwartet werden – und dann auch oft gemacht werden. „Das kann einen regelrechten Teufelskreis in Gang setzen“, betont die Expertin.
Schon in der Volksschule unter Druck
„Je mehr Leistung zum Kriterium für die soziale Rolle und das Selbstbild wird, umso gravierender ist ein Versagen“, erklärt Olaf Morgenroth, Gesundheitspsychologe an der Medical School Hamburg. Es hängt also auch immer von der Gesellschaft ab, in der ein Mensch lebt und sich selbst als gescheitert betrachtet.
Oberärztin Mahkorn, die neben der Lampenfieberstation auch die Akutstation an der Bonner Uni-Klinik leitet, hat festgestellt, dass gerade die junge Generation einen sehr hohen Anspruch an die eigene Leistung stellt. Auf die Akutstation kämen immer mehr junge Menschen, die sich als gescheitert betrachten. „Ich spreche nicht nur von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, sondern bereits von Volksschülern. Denn schon hier haben wir keine Fehlerkultur, sondern eine Fehlervermeidungskultur.“
Bereits in der Volksschule leiden viele Kinder, spätestens ab der dritten Klasse, unter Leistungsdruck und Versagensängsten, weil der Druck groß ist, es unbedingt aufs Gymnasium schaffen zu müssen. Wenn ein Kind dann tatsächlich „versagt“, kann es durchaus passieren, dass es weint. Einen Satz, den Volksschullehrer immer wieder von Neun- oder Zehnjährigen hören: „Mein Leben ist vorbei.“
Auf der Bühne beichten
Nicht nur in Österreich, sondern in den meisten europäischen Ländern waren Fehler und Niederlagen bisher ein Tabu. Doch langsam ändert sich etwas: Keine Angst, ihre Fehler zuzugeben, haben etwa die Sprecher, die bei einer sogenannten „Fuckup Night“ auf der Bühne stehen, um über ihre ganz persönlichen beruflichen Misserfolge zu sprechen. Eine positive Fehlerkultur zu entwickeln war das große Anliegen von Salomé Wagner und Dejan Stojanovic, die 2014 das Konzept der „Fuckup Nights“ von Mexiko nach Wien geholt haben. Seit vier Jahren finden deshalb regelmäßig diesbezügliche Veranstaltungen in ganz Österreich statt. Weltweit ist die Form der öffentlichen Fehlerbeichten in über 300 Städten in mehr als 80 Ländern vertreten.
„Es ist unglaublich, welche Dynamik, Energie und Wissbegierde entsteht, wenn offen über Fehler und Misserfolge gesprochen wird“, sagt Gründungsmitglied Stojanovic. Durch den Pecha-Kucha-Präsentationsstil (zehn Minuten Sprechzeit, zehn Bilder) haben die Vortragenden die Möglichkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Das bin ich, das ist das Projekt, was ist schiefgelaufen, was habe ich falsch gemacht. Kurz und bündig. Die Frage-und-Antwort-Runde, die sich am Ende jedes Auftritts entspinnt, ist nicht nur für das Publikum hilf- und lehrreich, sondern auch für die gescheiterten Jungunternehmer. Wie bist du damit umgegangen? Wie geht es dir jetzt damit? Was hast du für dein neues Projekt daraus gelernt?
Das große Tabu der Moderne
Scheitern hat in unserer Gesellschaft immer noch ein schlechtes Image. Anstatt jemanden zu ermutigen, etwas zu wagen, an sich und eine Sache zu glauben, werden gerade junge Start-ups verunsichert: „Das klappt doch nie!“, „Mach doch etwas Vernünftiges!“, „Damit scheiterst du garantiert!“ Doch auch österreichische Unternehmen sind zunehmend bereit, umzudenken und Fehlern Raum zu geben – nach dem Vorbild US-amerikanischer Unternehmen, die ihre Mitarbeiter für Fehler loben und sie dazu auffordern, sich möglichst unerreichbare Ziele zu setzen. Nach dem Credo: „Nur wer an seine Grenzen geht, kann auch innovativ sein.“
Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat das Scheitern einmal als das große Tabu der Moderne bezeichnet. In der Hamburger Kunsthalle zeigte die Ausstellung „Besser Scheitern“ vor einigen Jahren, dass das Gegenteil der Fall ist. „Scheitern“ ist in der Kunst selten gleichzusetzen mit „Misslingen“. Denn gerade hier entwickelt sich aus der vermeintlichen Niederlage oft etwas völlig anderes, sensationell Neues, absolut Konträres.
Das gilt längst nicht nur für die bildenden Künste, sondern für alle Tätigkeiten, die in irgendeiner Form mit einem kreativen Schaffensprozess zu tun haben. Und das nicht erst seit gestern. So schrieb der irische Schriftsteller Samuel Beckett, der sich bei seiner Deutschlandreise vor rund 80 Jahren besonders gern und ausgiebig in der Hamburger Kunsthalle aufhielt: „Wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern.“ (Anja Pia Eichinger, 7.1.2019)